- Materialismus des Volkes: Kraft und Stoff
- Materialismus des Volkes: Kraft und StoffDas Wort »Geist« war im Idealismus Hegels zu einem Heiligtum aufgestiegen, denn es bezeichnete das schöpferische Prinzip und verbürgte die Erkennbarkeit der Welt. Dass im Erkenntnisprozess die Welt geistig erfasst werden konnte, sollte seinen Grund darin haben, dass die materiale Welt selbst geistiger Natur sei. Völlig irdisch allerdings, ohne auch nur ein Stück weit einzutauchen in den umständlich dialektisch sich entfaltenden Geist der Philosophie Hegels, wuchsen nach dessen Tod andere Forscher zu den eigentlichen Herren auf wissenschaftlichem Felde heran: vorwiegend Positivisten, die immer schon davon ausgegangen waren, dass alles Wirkliche nichts anderes als Materie und ihre Bewegung sei. Die Entdeckungen im 19. Jahrhundert auf chemischem, medizinischem und physikalischem Gebiet haben ihren unbestrittenen Wert. Anders verhält es sich mit weltanschaulichen Theorien, die darüber errichtet wurden. Zunächst vom Bemühen um eine populäre Theorie der naturforschenden Praxis geleitet, wurden sie von »Vulgärmaterialisten« wie Ludwig Büchner, Jacob Moleschott und Karl Vogt verbreitet. Justus Liebig hatte sie in seinen »Chemischen Briefen« immer wieder als »Dilettanten« bezeichnet.Ihr Credo ist ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Materie und ihren Bewegungsgesetzen; jeder biblische oder metaphysische Jenseitsglaube wird von ihnen polemisch bekämpft. Freilich klebte auch Zeitgeist an den Lippen derjenigen philosophischen Schriftsteller, die mit ihrer medizinischen oder naturwissenschaftlichen Grundausbildung und ihren Sympathien für den linken Flügel der deutschen Nationalversammlung eine neue, naturwissenschaftlich begründete Weltordnung heraufbeschwören. Karl Vogt, Professor für Geologie in Gießen und Genf, spricht in zahlreichen Büchern mit astronomisch hohen Auflagen immer wieder seine berüchtigte materialistische These aus, dass alle Seelentätigkeit bloße Funktion des Gehirns sei. Die Gedanken stünden etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Schon die programmatischen Titel seiner Bücher verkünden thesenartig das Konzept jenes Materialismus. »Natürliche Geschichte der Schöpfung des Weltalls«, »Köhlerglaube und Wissenschaft«, »Vorlesungen über den Menschen« sind Zeugnisse eines Naturalismus, der zuletzt auch die sittliche Verantwortung den Gesetzen der Materie unterwirft; moralisches Vergehen führte er auf krankhafte Organisationen der leiblichen Natur zurück.Auch das publizistische Werk des Mediziners Jacob Moleschott konzentriert sich auf die Bewegung der organischen Materie. Wieder sind es einschlägige Titel, hinter denen sich das Werk ausnimmt, als verfolge es mit beständig erneuerten Anläufen die Erklärung des im Titel bereits Ausgesagten. »Physiologie des Stoffwechsels«, »Kreislauf des Lebens«, »Einheit des Lebens« sind kenntnisreiche Schriften, und sie verkünden die Einheitlichkeit der Weltsubstanz. Das Kapitel »Kraft und Stoff« in seinem »Kreislauf des Lebens« beschreibt - fast tautologisch - die »Kraft« als Wesen der Dinge und den »Stoff« als Träger der Kräfte in einer einheitlichen, vom stofflichen Kreislauf am Leben erhaltenen Welt. Alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel. Das Kapitel enthält zudem eine Polemik gegen die Theologie und gegen die Annahme einer übersinnlichen Lebenskraft. Moleschott sagt seinen Lesern, dass Kraft kein stoßender Gott sei, aber er sagt ihnen nicht, wie die Kraft es anfängt, dass ein Atömchen durch den leeren Raum hindurch seine Wirkung auf ein anderes ausübt. »Eben die Eigenschaft des Stoffes«, schreibt er lakonisch, »welche seine Bewegung ermöglicht, nennen wir Kraft.« Das Endprodukt der Naturentwicklung ist für ihn der Mensch. Er hat sich aus einer Urzelle gebildet, die zunächst verschiedenste Vorformen durchlaufen musste, bis über den Affen sich der Mensch entwickeln konnte. In seiner Keimesgeschichte vollzieht jedes Einzelwesen dann hastig und mit Ungeduld den Lauf der Entwicklung von Neuem. Lebenskraft, physische und chemische Kräfte stellen sich dar als Metamorphosen roherer Naturkräfte. Schließlich ist der Gedanke nur die Umsetzung eines Hirnstoffes, und das Denken hört auf, wenn das Gehirn nicht mehr durchblutet wird. »Ohne Phosphor kein Gedanke«, lautet die einprägsame, von Liebig spöttisch hervorgebrachte Formel des Moleschottschen Vulgärmaterialismus.Der erfolgreichste Autor dieses populärwissenschaftlichen Materialismus im 19. Jahrhundert ist Ludwig Büchner, Mediziner und Bruder des Dichters von »Dantons Tod« und »Woyzeck«. »Natur und Geist«, »Der Mensch und seine Stellung in der Natur«, »Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung«, »Die Macht der Vererbung«, »Am Sterbelager des Jahrhunderts«, um nur einige seiner Titel zu nennen, sie alle werden überragt vom Elementarbuch des Materialismus, Büchners Hauptwerk »Kraft und Stoff«, das über 20 Auflagen erreichte. Auch dieses Buch verkündet ein einziges Gesetz, das keine Ausnahme kennt, und demzufolge Kraft und Stoff nur gleichberechtigt und miteinander in Erscheinung treten. Wer von einer Schöpferkraft rede, der rede von nichts. Nur der Stoff und der Stoffwechsel seien ewig und mit diesen verbunden auch die Kraft, die bei jeder Bewegung in Erscheinung tritt. Naturgesetze seien blind, sie verfolgen keine Zwecke. Zudem habe der Mensch keine Vorzüge vor der tierischen Natur, und mit seinem Tode zerfallen die ihn zusammenhaltenden Stoffe wieder in ihre Elemente. Obgleich das Jahrhundert Büchners schon dabei war, sich von einer materialistischen Wissenschaft, die alles Wirkliche auf die Mechanik der Atome reduziert, zu verabschieden, halten jene philosophischen Schriftsteller fest am Gedanken des klassischen und antiken mechanistischen Materialismus.Die Thesen von Büchner, Vogt und Moleschott entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts in einem von Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Rudolf Virchow, Charles Darwin sowie anderen Physiologen und Chemikern geprägten Wissenschaftsklima, in dem die Naturwissenschaften auf eine Höhe geführt wurden, die vorher als unerreichbar gegolten hatte. Auf den Seziertischen, im Labor und öffentlich vorgetragenen Experimenten schien die Natur mehr preiszugeben von ihrer inneren Beschaffenheit als in logischen und spekulativen Deuteleien. Das von den Philosophen seit Jahrtausenden herbeigesehnte einheitstiftende Substrat der Welt glaubte man in der allgegenwärtigen Substanz »Materie« und in deren jederzeit reproduzierbaren Bewegungsgesetzen auf dem Wege empirischer Naturforschung gefunden zu haben. Es bedurfte wenig Philosophie, um Naturerkenntnis befördern zu können, und gerade das war das Unbefriedigende an dieser neuen Auffassung von Wissenschaft. Mit dem Abschied von den alten metaphysischen Systemen durch Methoden der materialistisch ausgerichteten exakten Naturforschung aber entstand somit - paradoxerweise - eine neue Metaphysik, die dem erwachenden bürgerlichen Bedürfnis nach Weltanschauung in einprägsamen Formeln entgegenkam. Die allgemeine Erkenntnis, dass alles Kraft und Stoff sei, steigt damit selbst in den Rang einer metaphysischen Wahrheit auf, deren Prinzipien beinahe schon wieder den Status eines allgegenwärtigen Schöpfers einnehmen.Dr. Klaus-Jürgen Grün
Universal-Lexikon. 2012.